Stadt und Industrie: Das Beste aus beiden Welten

24. Oktober 2024

Stadt und Industrie passen nicht zueinander? Zwei Absolventinnen der Universität Stuttgart zeigen in ihrer Masterarbeit, dass es auch anders geht. Für ihren Entwurf eines Produktionsquartiers in Leinfelden-Echterdingen erhielten die jungen Architektinnen den industriebaupreis 2024.
[Bild: Marlene Perl und Sammy-Jo Weinland]

Graue Flachdachbauten, wettergegerbte Fassaden und lauter LKW-Verkehr. In Industriegebiete verirrt man sich im Alltag kaum, außer man arbeitet dort. „Auch für Architektinnen und Architekten ist die industrielle Bauweise eher wenig leidenschaftsgeprägt, was eigentlich schade ist“, sagt Sammy-Jo Weinland, ehemalige Studentin der Architektur und Stadtplanung an der Universität Stuttgart. „Allein in Sindelfingen arbeiten 30.000 Menschen im Mercedes-Benz-Werk. Warum sollte man für diese Menschen keine ansprechende Umgebung gestalten?“, ergänzt ihre Kommilitonin Marlene Perl.

Wie Stadt und Industrie gemeinsam funktionieren können

Die beiden Alumnae haben ihre Abschlussarbeit am Institut für Bauökonomie dieser Frage gewidmet und untersucht, wie urbane Produktionsstandorte aus Unternehmenssicht profitieren können. „Die Robert Bosch GmbH verfolgt bereits eine tolle Philosophie“, sagt Marlene Perl. Sammy-Jo Weinland fügt hinzu: „Standorte müssten so gestaltet sein, dass die Menschen gesünder und glücklicher herausgehen, als sie reinkamen. Das finden wir faszinierend!“

So könnte der Leinfelder Standort in Zukunft aussehen. Urbane Produktionsstandorte sind so gestaltet, dass sich sowohl Mitarbeitende als auch Menschen aus der Region gerne dort aufhalten – ob zum Arbeiten, Wohnen oder um ihre Freizeit dort zu verbringen.

Durch Experteninterviews fanden die beiden heraus, dass es bereits einige Firmen gibt, die solche Standorte aufgebaut haben. „Das hat uns erstaunt, aber es zeigt, dass sich Unternehmen mit ihren Standorten auseinandersetzen müssen“, sagt Marlene Perl. Industriegebiete entstanden einmal mitten im Nirgendwo. Doch Städte wachsen und Wohn- und Industriegebiete rücken räumlich immer näher zusammen. „Bisher ist es so“, sagt Sammy-Jo Weinland. „Wenn ich meinen Nachbarn nicht kenne, bemerke ich nur den Lärm aus seiner Wohnung und störe mich daran. Öffnen wir uns einander, würden wir Gemeinsamkeiten erkennen, die uns zusammenschweißen. Und so ist es auch mit urbanen Produktionsstandorten.“

Bosch in Leinfelden-Echterdingen steht Modell

Urbane Produktionsstätten arbeiten agiler und innovativer und bieten identitätsstiftende Potenziale für ihre Mitarbeitenden sowie die Stadtbevölkerung. Kurze Wege lassen Synergien entstehen und bringen die Produktentwicklung voran.

„Wir haben herausgefunden, dass die Möglichkeit zur Ausbildung von Synergien eine ganz neue Art der kollaborativen Wertschöpfung bietet“, sagt Sammy-Jo Weinland. In Zusammenarbeit mit Bosch haben die beiden jungen Architektinnen einen Masterplan für ein Produktionsquartier am Standort in Leinfelden-Echterdingen südlich von Stuttgart entworfen. In Zukunft könnte auch dort ein solcher Austausch, Innovationen vorantreiben.

Aus räumlicher Nähe wird eine innovative Nachbarschaft. Unternehmen und Stadtbevölkerung profitieren von Wissensaustausch, kurzen Wegen und einem attraktiven Wohn- und Freizeitangebot.

Hübsche Fassade, smarter Kern

Charakteristisch für das derzeitige Stadtbild ist eine Gleise-Achse, die sich von Norden nach Süden durch die Stadt zieht. In ihrer Mitte liegt der S-Bahnhof, doch trennt sie zugleich Wohngebiete von Industrie- und Naturgebieten. „In unserem Masterplan nutzen wir die bestehende Infrastruktur und gestalten sie so um, dass ein urbaner Produktionsstandort sowohl für dort angesiedelten Unternehmen als auch für die Stadtbevölkerung attraktiv ist“, sagt Sammy-Jo Weinland.

Die Grenze wird zu einer Grünachsenverbindung, die Gleise verschwinden im Untergrund und Werkszäune fallen weg. Der U-Bahnhof bleibt der zentrale Knotenpunkt. Wohnungen und Produktionsstätten wandern zu beiden Seiten. In Makerspaces kann der oder die Heimwerker*in oder die Schulklasse Tools ausprobieren, Produktentwickler profitieren von diesem direkten Austausch. Das Gelände ist praktisch verkehrsfrei, dank neuer Verkehrsleitung. Es gibt einen Bosch-Tower, als Pendant zum Leinfelden-Tower, mit Wohnungen für Mitarbeitende und Menschen aus der Region. Außerdem: Restaurants, Bars und Cafés, einen Working-Wood für Stillarbeit oder Teamworkshops und einen renaturierten Bachlauf mit einer Surfwelle.

Die beiden Absolventinnen krempeln das Leinfelder Industriegebiet auf links. In ihrem Entwurf schaffen sie einen Raum für städtische und industrielle Einrichtungen, um Menschen, Produktion und Natur zusammenzubringen.

„Unser Masterplan stützt sich auf intensive Analysen der örtlich vorhandenen Infrastruktur, auf klimatische Bedingungen, wie zum Beispiel Hitzeinseln oder Luftschneisen, und baurechtliche Möglichkeiten“, sagt Marlene Perl. Die Abschlussarbeit der beiden Alumnae ist in projektorientierter Teamarbeit entstanden – die ideale Vorbereitung auf den Berufsalltag als Architektinnen. „Wir haben jeden Tag im gleichen Zimmer zusammengearbeitet“, erinnert sich Sammy-Jo Weinland. „Fragen konnten wir direkt diskutieren oder um Rat fragen, wenn eine von uns mal nicht weiterkam. Das hat die Arbeit ausgemacht.“

Für ihre Abschlussarbeit wurden die beiden mit dem industriebaupreis 2024 ausgezeichnet – einem Preis, den auch schon namhafte deutsche Architekturbüros erhalten haben. Sammy-Jo Weinland, die bereits als Werkstudentin bei Bosch arbeitete, geht ihrer Faszination für industrielle Architektur nun in der in-house Abteilung für Planungs- und Realisierungsbau nach. „Ich möchte die Art, wie wir heute Industriegebiete denken verändern und einen Mehrwert für die Menschen dort Ort entstehen lassen.“ Marlene Perl plant in einem Stuttgarter Architekturbüro von der Pike medizinische Bauten und Krankenhäuser.

Sammy-Jo Weinland (links) und Marlene Perl (rechts) vor einem Aufbau ihres Entwurfs.
Dieses Bild zeigt Jacqueline Gehrke

Jacqueline Gehrke

 

Redakteurin Wissenschaftskommunikation

 

Hochschulkommunikation

Keplerstraße 7, 70174 Stuttgart

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